Professor Günter Zehm alias ?Pankraz im Interview mit Bernd Kallina:

 

?Wir leben in einer Desinformations-Gesellschaft

 

Medienrealität: zuviel Manipulation, Lüge und Redundanz-Huberei


AULA: Die über Massenmedien verbreiteten Informationen prägen unser modernes Leben in hohem Maße. Spiegelt der in diesem Zusammenhang so vielfältig zitierte Begriff von der ?Informationsgesellschaft“ wirklich die real zu beobachtenden Veränderungen wider, die unsere Lage kennzeichnen?

Zehm: Wir leben nicht primär in einer Informationsgesellschaft, sondern in einer Desinformationsgesellschaft, zumindest was den Bereich der Politik betrifft. Realen Informationsgewinn gibt es in der Technik, in Wissenschaft und Forschung. In der Politik hingegen überwiegt die Desinformation. Die Dinge werden eher zugehängt statt offengelegt. Es herrscht z.B. Über-Information, d.h. die Infos, auf die es eigentlich ankommt, werden mit Redundanz[1] regelrecht zugeschüttet. Und es herrscht ganz unverblümte Manipulation. Man lügt, man trickst, man ?besetzt Begriffe“, wie es so schön heißt, man grenzt den Gegner aus und treibt ihn in die von Frau Noelle-Neumann beschriebene Schweigespirale. Also: eher Desinformationsgesellschaft denn Informationsgesellschaft, was die politische Sphäre der gesellschaftlichen Kommunikation betrifft.

AULA: Das verblüfft in gewisser Weise. Denn eine der Schlüsselfiguren der sich emanzipatorisch gebärdenden Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, proklamierte doch im Gefolge der 68er-Generation einen vielzitierten ?Herrschaftsfreien Diskurs“, worunter ganz generell ein Zuwachs demokratischer Kommunikationskultur verstanden wurde, ?gesamt-gesellschaftlich“ sozusagen, um ein Schlagwort der fortschrittlich Bewegten der damaligen Zeit in Erinnerung zu rufen. Jetzt sitzen die 68er an den Schaltstellen der Medienmacht und das Gegenteil ist seit Jahren zu beobachten. Galt also die tolerante, offene Diskurs-Kultur a la Habermas nur für das eigene linke Milieu?

Diskursüberwacher und Sprachtabus


Zehm: Soweit ich das verstehe, ist der ?herrschaftsfreie Diskurs“ ein utopischer Restbestand aus alten marxistischen Tagen, Ausdruck des sogenannten ?linguistic turn“ in der Sozialphilosophie. Das Reich der Freiheit soll jetzt eben in erster Linie ein Reich der herrschaftsfreien Kommunikation sein. Aber das ist Utopie und Ideologie. Die kommunikative Praxis der zur Herrschaft gekommenen 68er sieht anders aus. Sie ist nichts weniger als herrschaftsfrei. Es gibt Diskurs-Machthaber, Diskursüberwacher, die genau darauf achten, wer zum mediengestützten offiziellen Diskurs zugelassen wird und wer nicht. Es wimmelt von Sprachtabus und von allen möglichen Sprachregelungen. Das intellektuelle Klima ist sehr viel weniger liberal als vor Machtantritt der 68er.

AULA: Das würde auch die Eigentümlichkeiten im seit zwei Jahren so besonders heftig geführten ?Kampf gegen rechts“ erklären, an dem sich erhebliche Teile der deutschen Massenmedien völlig unkritisch beteiligen. Niemand stellt z.B. publikumswirksam die Frage, warum es nur ?gegen rechts‘ strafrechtlich relevante Propaganda-Delikte in der Bundesrepublik gibt, nicht aber gegen links, obwohl unter den Symbolen von Hammer und Sichel mehr Menschen umgebracht wurden als im sogenannten ?Faschismus‘ ?

Zehm: Ich bin allergisch gegen diese Einteilungen in ?rechtsextrem“’ und ?linksextrem“. Das sind reine Kampfbegriffe, Drohvokabeln, hinter denen Absichten, keine Tatsachen stehen. Es soll ausgegrenzt und kriminalisiert werden – zur Zeit vor allem gegen rechts. In einem wirklich freien, lässig liberalen Kommunikationsprozeß, wo man wirklich aufeinander hört, wo man zuzuhören versteht, haben diese Zensurbegriffe nichts zu suchen. Das ist alarmistisches Ausgrenzungsgeschrei, das jeden echten Diskurs verhindern will. Gegen Argumente werden mehr oder weniger gespielte Empörungsschreie losgelassen, so etwa: ?Wir stehen kurz vor einem neuen 1933, und Du bist mit deinen Argumenten daran mitschuldig!, Biedermann und die Brandstifter! Damit muß sofort Schluß sein!“ usw. usw.

Der ewige ?Kampf gegen rechts“’ kommt den Medienherren natürlich sehr gelegen. Es sind – wie gesagt – linke und linksextreme Antifa-Formationen, die hinter ihnen stehen bzw. die sie selbst repräsentieren. Und die sind selbstverständlich vital daran interessiert, alles, was von ihrer Linie abweicht, als ?extremismusverdächtig“ zu verunglimpfen oder gar als ?extremismusnahe“ zu denunzieren.

AULA: Welche Gegenstrategie empfehlen Sie denen, die das Spiel durchschauen und diese illiberale Praxis in Deutschland zumindest zurückdrängen wollen?

Gegen Geschwätz und Drohvokabeln


Zehm: Wichtig wären die Veränderung der Machtverhältnisse. In der Schweiz, in den skandinavischen Ländern, beinahe auch in den Niederlanden und auf eine vertrackte Art auch in Österreich, hat es diese politisch zweifellos notwendige Veränderung ja schon gegeben. Es dominieren bzw. regieren nun traditionell konservative Parteien mit Hilfe und in Koalitionen mit ?rechtspopulistischen Bewegungen‘. Wenn es das in Deutschland gäbe, wenn wir eine CDU/CSU-Regierung hätten, die mit einer populistischen 15-bis-20-Prozent-Partei regieren würde, dann sähe die Sache – auch was Kommunikation und Medienlandschaft betrifft – schon sehr viel besser aus.

Im übrigen empfehle ich dringend Sachlichkeit. Ich bezweifle, daß es rechten und konservativen Formationen gut tun würde, in der Medienpolitik die linken Praktiken einfach zu übernehmen und ?mit neuen Inhalten zu füllen“. Man kann einen Qualitätswein nicht in einen Seifenbottich abfüllen, ohne daß seine Qualität darunter leidet. Andererseits soll man die institutionellen Möglichkeiten, die es gibt, natürlich nutzen, soll sich in den sogenannten öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremien energisch vernehmbar machen usw. Dazu gehört Übung. Die Linken sind durch die lange Übung, die sie darin haben, viel gewiefter, was das Aufstören der Öffentlichkeit betrifft, das Sich-Vernehmbar-Machen. Da muß manches vom Gegner gelernt werden, regelrecht von den Linken abgeschaut werden. Aber unterm Strich gilt: Manipulation, Lüge und Redundanz-Huberei sollten aus der Medienpolitik verschwinden. Wichtig im medialen und kommunikativen Prozeß ist: Liberalität, konkretes Sprechen, Genauigkeit, Empfindlichkeit gegenüber bloßem Geschwätz und gegenüber Drohvokabeln.

AULA: Kann man es so formulieren: die nichtlinken Kräfte müßten, ausgehend von ihren vorhandenen institutionellen Möglichkeiten, eine stärkere ?Kampagnenfähigkeit‘ erreichen bzw. diese Fähigkeiten begründen, steigern oder optimieren, um damit zu einer ernstzunehmenderen Konkurrenz für die bisherigen Inhaber der Deutungshoheit zu werden ?

Zehm: Nein. ?Kampagne“, ?Diskurshoheit“ – das sind ja typische Begriffe aus dem Bereich der Manipulation und der Desinformation. Ich lasse mich davon nicht abbringen: Wenn man genau und konkret auf die politischen Notwendigkeiten eingeht und klar darüber spricht, dann ist das die beste Medienpolitik für den, der sie macht. Das schließt eine optimale Verbreitung dieser Inhalte über die Massenmedien überhaupt nicht aus.

Kampagnen-Journalismus führt zu Politikverdrossenheit


Im Augenblick kommt es, finde ich, vor allem darauf an, die Kampagnen der Linken als Manipulation und Desinformation kenntlich zu machen, deutlich zu machen, wie schädlich und letztlich desaströs dieser Kampagnen-Journalismus für das Gemeinwesen ist, Er schadet vor allem der Politik im Ganzen, macht sie in den Augen der schweigenden Mehrheit total unglaubwürdig, führt zur berüchtigten ?Politikverdrossenheit“ und zu Schlimmerem. So, wie es jetzt läuft, darf es auf keinen Fall weitergehen, auch mit angeblich geänderten ?Inhalten“ nicht.

AULA: Was hat Sie bewogen, Ihre berühmte Pankraz-Kolumne , die zuerst lange in der Tageszeitung ?Die Welt“ erschien und danach im ?Rheinischen Merkur“, seit Mitte der 90er Jahre in der von jungen Leuten gemachten patriotischen ?Jungen Freiheit“ erscheinen zu lassen ? Wie beurteilen Sie ganz generell dieses ehrgeizige Projekt ?Junge Freiheit“ von Dieter Stein und seiner Berliner Mannschaft ?

Zehm: Eine Zensurmaßnahme im ?Rheinischen Merkur“ gab damals den Ausschlag. Die Leute vom ?Rheinischen Merkur“ haben eine meiner Kolumnen, nachdem sie bereits vom leitenden Redakteur gegengelesen und freigegeben worden war, in letzter Minute und ohne mir Bescheid zu sagen einfach gekippt, offenbar auf Insistieren der damaligen Kohlregierung, die über großen Einfluß in dieser Zeitung verfügte. Und vor den Lesern wurde so getan, als sei ich verreist und hätte gar keinen Text geschrieben. So etwas darf man sich nicht gefallen lassen.

Zur selben Zeit sind dann die höflichen jungen Leute von der ?JF“ zu mir gekommen und haben angefragt, ob ich den Pankraz nicht bei Ihnen fortführen wolle. Zensur finde bei Ihnen garantiert nicht statt. Das Angebot war mir willkommen, denn die publizistischen Möglichkeiten für eine derartig unabhängige Kolumne sind im gegenwärtigen Deutschland faktisch gleich Null.

Im übrigen gilt ja: Die JF ist eine Wochenzeitung, die immer mehr gebraucht wird. Sie hat sich gut entwickelt. Am Anfang war sie ein Schülerblättchen von zwei, drei Abiturienten in Freiburg, und jetzt ist sie eine in Berlin regelmäßig erscheinende, gut gemachte Wochenzeitung mit vielen interessanten Aufsätzen und beeindruckenden großen Interviews mit wichtigen Leuten. In der deutschen Geisteselite ist es schon so eine Art Spiel geworden: ?Kannst Du es wagen, in der Jungen Freiheit zu veröffentlichen oder ihr ein Interview zu geben?“ Kurzum: die JF ist aus dem Geistesleben nicht mehr wegzudenken.

Endzeit-Stimmungen leiten Änderungen ein


AULA: Das sehen allerdings nicht alle so: die Wochenzeitung wird bald seit 10 Jahren vom Nordrhein-Westfälischen Inlandsgeheimdienst als extremismusverdächtig in den Warnberichten des Bundeslandes aufgeführt. Ist das, was das NRW-Innenministerium hier inszeniert, für die geistespolitische Lage eigentlich typisch ?

Zehm: Ja. Es gibt ja ähnliche Vorgänge in anderen Bundesländern. Ich denke an Bayern, wo der Innenminister Beckstein eine Kampagne gegen die große Burschenschaft Danubia führt. Ausgerechnet die Danubia: ein unbezweifelbares Reservior von Nachwuchskräften genau für die CDU/CSU! Aber dergleichen ist typisch. Und es ist nur konsequent, daß der Chefredakteur der Jungen Freiheit, Dieter Stein, dies nicht auf sich beruhen läßt und gegen diesen Behördenmißbrauch juristisch vorgeht. Gegen diese Art der Kriminalisierung, die ein wichtiges Instrument der linken Medienpolitik ist, muß man alle Hebel rechtsstaatlicher Gegenwehr in Bewegung setzen.

Wehren sollte die JF sich auch gegen ein anderes Ausgrenzungsinstrument: das forcierte Totschweigen. Man zitiert die ?Junge Freiheit“ nicht, man erwähnt sie nicht. Und Kioskbesitzer werden nach wie vor unter massiven Druck gesetzt mit dem Ziel, das Blatt nicht in ihrem Sortiment zu führen Aber auch das ist ein Zeichen, daß das Blatt an Einfluß zunimmt. Es gibt den flotten Spruch in linken Kreisen: ?Gegen dich hilft nur noch Totschweigen“. Solche Stimmungen sind in der Regel Endzeit-Stimmungen. Änderung liegt dann in der Luft, und fast jeder merkt es.

AULA: Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Junge Freiheit sehr wohl genauestens und vielerorts – auch seitens hochgestellter Persönlichkeiten der Bundesrepublik – anerkennend registriert wird, meist jedoch im vertrauten Gespräch und weniger öffentlich, aber auch letzteres gibt es nun in zunehmender Tendenz. Ein doch eher erfreuliches Zeichen oder ?

Zehm: Ja, aber wie Sie wissen: ein bißchen Erfolg weckt sofort die Hunde. Gerade die letzte Frankfurter Buchmesse war dafür bezeichnend, wo es (diesmal nicht gegen die ?Junge Freiheit“, sondern gegen einen mit der JF verbündeten Verlag, die ?Edition Antaios“) wieder Gewaltattacken gab, wie in alten 68er Zeiten, als z.B. der Messestand der Tageszeitung ?Die Welt“ total zusammengeschlagen wurde. Das scheint sich wiederholen zu wollen. Und wenn Sie bedenken, was man dieser JF schon alles angetan hat: man hat ihre Druckerei in Weimar in Brand gesteckt, Kapuzen-Männer mit vorgehaltenem Revolver haben die Redaktion überfallen und die Kartei geraubt. Ihre Korrespondenten werden, wenn sie erkannt werden, aus politischen Veranstaltungen ausgeschlossen, viele Grossisten führen die JF nicht, so daß es zu Einschränkungen in der Verbreitung kommt. Also, man kann sich wahrhaftig nicht zufrieden zurücklehnen.

AULA: Konservative Persönlichkeiten – gerade auch im Bereich der studentischen Korporationen – ergreifen oft Berufe wie Rechtsanwälte, Ärzte, Betriebswirte usw. Vernachlässigen sie zu sehr die Informationsberufe?

Was sind Verbindungen?


Zehm: Was die Verbindungen betrifft, ist das wohl so. Aber was sind eigentlich Verbindungen? Es sind ja keine ?Kaderschmieden“, sondern gleichsam Sozialisationsräume für Erstsemester. Man sucht dort irgendwie die Fortsetzung heimatlicher, mutterbestimmter Gemütlichkeit, die man ja auch nötig hat, jetzt, da einem der kalte Wind der Erwachsenenwelt voll ins Gesicht bläst. Dagegen ist nichts einzuwenden. Verbindungen sind – trotz einer generell eher konservativen Grundhaltung – nie dezidiert politische Vereinigungen gewesen, wenn man von gewissen historischen Vorgängen absieht wie z.B. die Bewegung der Burschenschaften in der Zeit des Biedermeiers und der Restauration.

Um auf Ihre Frage zu kommen: Leute, die eher konservativ gestimmt sind, neigen nun mal zur Wahl sogenannter ?praktischer“ Berufe: Rechtsanwälte, Ärzte, Betriebwirte. Lange Zeit ging das auch gut. Aber heute in der ?Informationsgesellschaft“, wo die Medien allgegenwärtig sind (und wo man als Medienberufler übrigens auch gut verdienen kann) müßte sich das ändern. Man kann den linken Truppen nicht einfach das Feld überlassen. Das führt à la longue zu einer verhängnisvollen Politik; wir haben ja eben darüber gesprochen.

AULA: Politik im Sinne einer Stärkung rechtsstaatlicher Demokratie erfährt ihre multiplikatorische Wirkung durch massenmediale Verbreitung. Da können ja Berufsfelder im Schnittmengenbereich der Publizistik, der Politik- und Geschichtswissenschaft oder der Informatik nur nützlich sein. Oder auch ein ganz anderes Feld, das ja nicht gerade strotzt vor konservativ-patriotischem Personal: die Film- und Theaterbranche. Sollten junge Leute von rechts nicht gerade für diese Berufe begeistert werden ?

Zehm: Ja, sicherlich. Die entscheidende Frage ist, ob sie, wenn sie sich nicht rechtzeitig krümmen lassen, dann einen Fuß in die Medien-Tür bekommen. Daß die Massenmedien in überwältigender Zahl von linken Kräften besetzt sind und auch beherrscht werden, bedeutet nicht zuletzt: Sie treiben bewußt ?Kaderpolitik“ im Sinne des kommunistischen Ideologen Gramsci, sie verlangen von den Bewerbern, wenn nicht gleich Stallgeruch, so auf jeden Fall geistige Unterwerfung, den Gebrauch bestimmter Schlüsselwörter, die Beachtung von Tabus. Es wird da für junge Nachwuchskräfte anderer politischer Coleur sehr schwer, überhaupt hineinkommen. Sie sollten es trotzdem versuchen.

Negative Traditionen gibt es nicht


Weil Sie die patriotische Komponente ansprachen; da herrscht nun wohl das gewaltigste Tabu im deutschsprachigen Raum. Das Dritte Reich ist der Leitbegriff, von dort her wird die ganze deutsche Geschichte rückwirkend vergiftet und als nichts weiter als ein ?Weg in den Faschismus“ dargestellt. Das ist wirklich ein fatale, möglicherweise für das deutsche Volk letale Konstellation. Mächtige nationale und internationale Kräfte stehen dahinter und sind daran interessiert, daß sich nichts ändert. Hier trotzdem etwas zu ändern – das ist die große mediale, ja darüber hinaus geistige Aufgabe, die vor uns steht.

AULA: Aber im Bereich der von Ihnen angesprochenen Tabu-Problematik gibt es doch gerade in letzter Zeit auflockernde Bewegung – eigentümlicherweise nicht aus dem traditionell konservativen Lager, sondern eher von links. Denken Sie an die auflagenstarken Publikationen zum Luftkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg oder an die Diskussion über die deutschen Vertreibungs-Opfer, angestoßen im vergangenen Jahr durch die Novelle von Günter Grass über den Untergang der ?Gustloff“. Eine hoffnungsvolle Hinwendung zur Thematik ?Deutsche als Opfer“?

Zehm: Es liegt einfach in der Natur der Völker und der einzelnen Menschen, daß man es nicht auf Dauer hinnehmen kann, immer wieder als ?Täter“ hingestellt zu werden und von daher geradezu negative Traditionen bilden soll. Negative Traditionen gibt es nicht. Tradition heißt immer, festzuhalten am Gelungenen und am Ansehnlichen. Diese Einsicht setzt sich bei den Deutschen nun durch. Seit neuestem ist zu beobachten, wie einiges ganz spontan – von unten kommend – richtig gestellt wird. Daß wir eben keinesfalls das ?Volk der Täter“ sind, sondern dasjenige, dem am meisten Leid angetan worden ist. Klar, wir haben den Krieg verloren, ?vae victis“. Das wird nun, ganz spontan, ans Licht und in die öffentliche Diskussion gebracht, allen krampfhaften (und oft richtig drohenden) Behauptungen zum Trotz, daß man ?nichts vergleichen“ dürfe und daß unser Leid nur ?die gerechte Strafe“ für vorher von uns ausgestreutes Leid sei. Mag schon sein, daß das der Anfang eines Umschwungs ist. Schön und großartig wäre es. Man muß abwarten.

1989: Vaterländische Regung im Keim erstickt


AULA: Wieso kam es eigentlich nach 1989, nach dieser so unerwartet-erfreulichen Wiedervereinigung zwischen West- und Mitteldeutschland nicht zu einem patriotischen Umschlag?

Zehm: Es waren alle damals schon maßgeblichen Kräfte daran interessiert, daß es diesen ?patriotischen Umschlag“, wie Sie es nennen, nicht gab. Ich kenne das aus der Universität Jena, meiner alten Heimatuniversität, zu der ich gleich nach der Wende zurückgekehrt bin. Da habe ich hautnah miterlebt, wie Figuren, die aus dem Westen kamen, man wußte nicht genau woher, Gremien bildeten, Kongresse veranstalteten, Gedenktafeln enthüllten – mit dem einzigen Zweck, den Schuldkomplex einzupflanzen und jede vaterländische Regung im Keim zu ersticken.

Zum anderen gab es gewissermaßen ?objektive“ Schwierigkeiten. Die DDR-Bevölkerung freute sich natürlich in erster Linie (was nur menschlich und völlig verständlich ist) über den materiellen Segen, der nun hoffentlich über sie kommen würde, über den zu erwartenden Anteil am Wohlstandskuchen. Und im Westen war die Jugend – beinahe schon über Generationen hinweg – von jeder vaterländischen Regung weggeführt worden. Es regierten stattdessen der reine Hedonismus und die ?Spaßgesellschaft“, Und so ist es gekommen, daß die Politik in Sachen Wiedervereinigung faktisch machen konnte, was sie wollte, ohne Widerstand befürchten zu müssen. Es gab in der etablierten Politik damals eine Art Schrecksekunde – und danach ging alles wieder weiter, als sei nichts gewesen.

Herumwüten gegen die eigene Nation


AULA: Ihre Zwischenbilanz zum im Oktober 2003 begangenen 70.Geburtstag – Autor und Aula-Redaktion gratulieren nachträglich – als Wissenschaftler und Publizist, Herr Professor Zehm. Kann sich trotz schwieriger Ausgangslage Deutschland nationalpolitisch emanzipieren und international behaupten ?

Zehm: Es gibt Behauptungskräfte, und die Aussichten sind im Vergleich zu dem, was noch vor einigen Jahren war, besser geworden, so sehr der momentane Augenschein auch dagegen zu sprechen scheint. Was die europäische Konstellation betrifft, so könnte man fast sagen: Wir brauchen nur abzuwarten. Wir sind in einer günstigen geopolitischen Lage in Deutschland und in Mitteleuropa, ?nur noch von Freunden umgeben“, wie es heißt, mit einer immer noch stattlichen Industrie und Wissenschaft und großartigen öffentlichen und privaten Logistiken. Wir müßten an sich nur so gediegen weitermachen, wie es nach dem Krieg in den Aufbaujahren passiert ist, dann würden sich die politischen Eisenfeilspäne ganz natürlich nach dem magnetischen Zentrum hin orientieren und wir könnten entscheidend zur Schaffung einer modernen europäischen Identität beitragen.

Gefährlich ist eben die künstliche Aufrechterhaltung des Tabus und das Herumwüten gegen die eigene Nation, das im Zeichen dieses Tabus jeden Tag in den Medien stattfindet. Gefährlich ist das Hinschwinden der eigenen genetischen Substanz; das trifft übrigens auf ganz Europa zu: Wir stehen im Zeichen einer neue Völkerwanderung, wo integrationsunwillige, aus einer ganz anderen Kultur stammende und zudem schlecht ausgebildete, das Zusammenleben auf lange Zeit schwer störende Schichten aus anderen Kontinenten in Europa einströmen und die Regierungen, zumindest unsere deutsche Regierung, faktisch nichts dagegen tut.

Also, das Spiel steht auf der Kippe. Aber war das nicht immer so im Leben und Überleben der Völker? Man muß optimistisch sein und auch in bedrohlichen Lagen kaltblütig bleiben und die Übersicht behaltern.
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[1] Redundanz, lt. Duden: Überladung einer Aussage, einer Information mit überflüssigen Sprach- bzw. Informationselementen

 

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