Peter Scholl-Latour über die Folgen des von den USA angestrebten
EU-Beitrittes der Türkei
Das Lügengeflecht der Politiker das Ende der deutschen Identität
Der amerikanische Politologe Samuel Huntington sagte bereits 1996 das Ende
des amerikanischen Traumes von der One World³ und den Kampf der Kulturen³
The Clash of Civilisations³ voraus.
Von Helmut Golowitsch
Das Vorhaben, die weltbürgerlichen freimaurerischen Ideale, welche der
Gründung der USA zugrunde lagen, zum Konzept einer allgemeinen Weltordnung
zu machen, ist seitdem sichtbar gescheitert.
Das Motto der amerikanischen Gründungsväter e pluribus unum³ läßt sich
nämlich nicht auf die Welt übertragen, denn diese ist multikulturell. Die
Kolonisten Amerikas stammten zwar aus verschiedenen Nationen, jedoch aus
einem gemeinsamen abendländisch-christlichen Kulturkreis.
Die Politiker Amerikas haben die Lektion Huntingtons nicht gelernt, daß nur
eine auf verschiedenen Kulturen basierende partnerschaftliche Weltordnung
anstelle hegemonialer Bestrebungen einzelner Kulturkreise Schutz vor
globalen Kulturkonflikten bieten kann.
Gesteuert durch eine Israel-Lobby, die sich in den USA unter den Signaturen
wie Rumsfeld, Wolfowitz und Perle präsentiert, hat Präsident Bush mit dem
nach Meinung mancher Experten bereits verlorenen Irakkrieg nicht die von
Israel erhoffte Konsolidierung des Nahen Ostens erreicht, sondern die USA in
eine sich bereits abzeichnende künftige Niederlage und Katastrophe im Irak
geführt.
Darüber hinaus hat Bush einen bereits in Gang befindlichen weltweiten Prozeß
der Re-Islamisierung wie durch einen Raketentreibsatz beschleunigt und damit
eine wahre Büchse der Pandora geöffnet.
Die Spanier haben mit den Anschlägen in Madrid bereits erste Früchte dieser
Politik geerntet, weitere Katastrophen scheinen vorprogrammiert zu sein.
Der wahrscheinlich beste Kenner der islamischen Welt, Peter Scholl-Latour,
hat bereits 2002 in seinem Buch Kampf dem Terror Kampf dem Islam ?³
darauf hingewiesen, daß die als Globalisierung getarnte und mit
militärischen Mitteln verfolgte Amerikanisierung der Welt nicht zuletzt an
den Kräften des Islam scheitern wird.
Die verhängnisvolle Verstrickung der USA in nicht zu gewinnende
Regionalkonflikte vom Irak bis nach Afghanistan, die zur politischen
Destabilisierung dieser Teile der Welt zu führen drohen, zeigt Scholl-Latour
in seinem neuesten Buch Weltmacht im Treibsand Bush gegen die Ayatollahs³
(Propyläen Verlag Berlin 2004 ISBN 3-5 549-07208-2) auf.
Opportunisten als Hüter der politischen Korrektheit³
Scholl-Latour weist darauf hin, daß die Attacken der Bush-Administration
gegen das alte Europa³ eindeutig auf die Schwächung, auf Spaltung eines
bislang befreundeten Kontinents hin³ abzielen, der in den Verdacht geraten
war, ein potentieller Rivale der USA zu werden.³ (a.a.O., S. 14)
Während immer mehr Deutsche Zweifel an den Kriegsgründen und Kriegszielen
des Irak-Feldzuges anmelden und vermeinen, Bush habe sich ein womöglich
unter Mitwissen der Geheimdienste geschaffenes zweites Pearl Harbor
zunutze gemacht, um dem Globus die neue amerikanische Weltordnung
aufzudrücken, halten eine Vielzahl unterwürfiger Politiker und
Journalisten³ die amerikanische Stellung und stimmen in den anklagenden Chor
gegen die verräterischen Europäer³ ein.
Es handelt sich laut Scholl-Latour um Leute, die eine wahre Wohllust
empfinden, wenn man ihnen in den Hintern tritt.³
Persönlich habe ich häufig die Erfahrung gemacht, daß mit dem
Totschlag-Vorwurf des Antiamerikanismus ein deutscher McCartyismus geschürt
wird. Pikanterweise zeichnen sich dabei Regierungsmitglieder und opinion
leadersŒ aus, die sich 1983 noch vor amerikanischen Kasernen festketten
ließen, um die ... Nachrüstung des Westens zu sabotieren, die zum
Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums entscheidend beigetragen hat.
Ganz zu schweigen von jenen Opportunisten, die sich heute an die Brust Uncle
Sams werfen, nachdem sie in den sechziger Jahren zu dem kindischen
Schlachtruf Ho Ho Ho Tschi MinhŒ durch die deutschen Straßen trabten, sich
Arafat-Tücher ... um den Hals knüpften und schändlicherweise amerikanische
Fahnen verbrannten.³
Glauben an die amerikanische Story³ verloren
Die Haltung der Opportunisten spiegelt aber nicht die Meinung der Menschen
wider. Und dies nicht nur in Deutschland und Europa.
Scholl-Latour zitiert den amerikanischen Kolumnisten William Pfaff: Die
Menschen außerhalb der USA haben den Glauben an die amerikanische StoryŒ
verloren. Sie glauben nicht, daß der Terrorismus eine Kraft des BösenŒ ist,
die die Vereinigten Staaten bezwingen werde. Sie stellen statt dessen fest,
daß Terrorismus eine Form der Kriegsführung für Völker ist, die über keine
F-16 Kampfflugzeuge und Panzerdivisionen verfügen.³ (a.a.O., S. 17)
Im Irak in der Sackgasse
Daß das von der Bush-Administration angestrebte Nation Building³ Bildung
einer eigenen Staatsnation aus Sunniten, Schiiten und Kurden im Irak eine
Täuschung und Selbsttäuschung ist, wagt in Deutschland kaum jemand zu
äußern.
Scholl-Latour:
Wir sind bei der in Deutschland praktizierten Selbstzensur, der braven
Anpassung an die political correctnessŒ so weit gekommen, daß es sich nur
noch ein israelischer Militärhistoriker in einer hiesigen Gazette leisten
kann, in aller Nüchternheit festzustellen, daß Amerika den Irak-Krieg
bereits verloren hat ... Ich will hier ... meine eigene Erkenntnis
beisteuern, warum der Feldzug Iraqi FreedomŒ zum Scheitern verurteilt ist.
Die USA werden zwar niemals eine Schlacht oder auch nur ein Gefecht
verlieren. Dennoch bieten sich der Strategie Washingtons auf längere Sicht
nur zwei Optionen, und beide sind negativ.
Entweder versteift sich die Bush-Administration auf die Schaffung eines
proamerikanischen Regimes in Bagdad, das unter Mißachtung des Wählerwillens
mit einem Lippenbekenntnis zur Demokratie und Meinungsfreiheit die
Weltöffentlichkeit ähnlich wie Hamed Karzai in Afghanistan zu betrügen
sucht. Da eine solche selektierte Mannschaft, die man sehr bald der
Autorität eines starken MannesŒ unterstellen müßte, den Forderungen der
Petroleum-Konzerne der USA nachgeben, einen Friedensvertrag mit Israel
abschließen und den Führungsanspruch der schiitischen Bevölkerungsmehrheit
mißachten müßte, besäße sie nur geringe Überlebenschancen. Die US-Army würde
sich der ständigen Guerrilla-Überfälle überdrüssig aus dem Zweistromland
zurückziehen wie seinerzeit die Sowjetrussen aus Afghanistan Š
Die andere Option, deren kritische Bewertung ein wesentlicher Teil dieses
Buches ist, lautet wie folgt: Die USA erkennen an, daß die Schiiten im Irak
den Schlüssel zur Zukunft besitzen und der zentrale Faktor einer eventuellen
Stabilisierung sind. Damit müßte der Präsident jedoch hinnehmen, daß im Irak
eine Islamische RepublikŒ ausgerufen wird. ...
Wird George W. Bush über den eigenen Schatten springen können? Er hatte in
der Vorbereitungsphase seines Irak-Feldzuges angekündigt, das Terror-Regime
Saddam Husseins nach dessen Sturz in einen beacon of democracy³, einen
Leuchtturm der Freiheit umzuwandeln, der mit allen Errungenschaften der
parlamentarischen Demokratie und der freien Marktwirtschaft gesegnet wäre.
Dieses idyllische Vorbild sollte auf alle arabisch-islamischen Staaten
ausstrahlen, die weiterhin der Willkür von Despoten oder religiösen
Fanatikern ausgeliefert sind, und sie zur offiziellen Heilslehre des Westens
bekehren. Diese extrem naive Absicht so sie denn überhaupt ernst gemeint
war würde durch das Entstehen einer islamischen Theokratie an Euphrat und
Tigris in ihr Gegenteil verkehrt. Trotz des Überdrusses an der
MullahkratieŒ, der sich inzwischen bei weiten Bevölkerungsschichten, vor
allem bei der Jugend in Teheran, breitmacht, käme unweigerlich zwischen den
beiden mehrheitlich schiitischen Nachbarstaaten Iran und Irak eine
unterschwellige Komplizenschaft zustande. Die religiöse Wiedergeburt in
Bagdad und Nedschef könnte eine Brücke schlagen zu jener schiitischen
HizbullahŒ des Libanon, die die weit überlegene Armee Israels zum Rückzug
auf die Grenzen Galiläas gezwungen hat ... Das Menetekel des Königs Belsazar
von Babylon leuchtet in flammenden Lettern.³
Türkei: Eine gewaltige Migration aus Anatolien Verlust der deutschen
Identität
Aufschlußreich und für uns Europäer bedeutsam sind Scholl-Latours
Ausführungen über die Folgen eines türkischen EU-Beitrittes. Der Kenner der
islamischen Welt nimmt sich hier kein Blatt vor den Mund.
Der türkische Ministerpräsident Erdogan bleibt zweifellos im islamischen
Glauben verwurzelt. Für viele ist Erdogan eine Sphinx geworden. Jedenfalls
könnte er befähigt sein, das Lügengeflecht zu zerreißen, das um den Beitritt
der Türkei zur Europäischen Union von den Politikern sämtlicher deutscher
Parteien seit langem geknüpft wird. Um nur zwei Punkte zu erwähnen: Erdogan
ist dabei, die hohe Generalität, die im Nationalen Sicherheitsrat weit mehr
Macht ausübte als Parlament und Regierung zusammen, in ihre Schranken zu
verweisen. Damit erfüllt er eine der Forderungen nach konsequenter
Demokratisierung, die von den Europäern stets erhoben wurde. Gleichzeitig
jedoch entfernt er das letzte kemalistische Bollwerk, das im Namen des
Laizismus die fortschreitende Islamisierung seines Landes blockiert. Während
der angebliche Christen-ClubŒ des Abendlandes dem Religionsverzicht, ja dem
Atheismus zuneigt, würde der neue Beitrittskandidat seine koranische
Identität Schritt um Schritt betonen ... Wer weiß schon in Deutschland, daß
zumindest in den ländlichen Regionen kein Politiker eine Chance hat,
Parlamentsabgeordneter zu werden, wenn er nicht die Unterstützung der
örtlichen TarikatŒ, der islamischen Sufl- oder Derwischbünde, genießt.
Von der EU wird immer wieder eine liberale Lösung der Kurdenfrage angemahnt.
Ein Eingehen darauf dürfte die weitgehende kulturelle und politische
Autonomie dieser auf 15 Millionen Menschen geschätzten Minderheit nach sich
ziehen. Der Nordirak könnte da als Vorbild und Ermutigung dienen. Aber
dadurch droht der Zusammenhalt des kemalistischen Einheitsstaates gesprengt
zu werden. Wahrscheinlich wäre dann sogar schon auf Grund der ethnischen
Verzahnung der Siedlungszonen ein endloser Sezessionskonflikt fällig, dem
die europäischen Partner hilflos zusehen würden ... Insgeheim hofften die
meisten Schönredner des Abendlandes, Ankara würde es ohnehin nie fertig
bringen, das Aufnahme-Examen zu bestehen. Nunmehr jedoch könnte Erdogan
Fakten schaffen und die erheischten Voraussetzungen erfüllen. Da aus den USA
massiver Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt wird, die Erweiterung der
Europäischen Union in Richtung Anatolien zu vollziehen, und die deutsche
Wirtschaft politische Vernunft durch kurzfristiges Profitdenken ersetzt,
stünden die Chancen nicht schlecht für Ankara.
In Washington ist man sich bewußt geworden, daß die Türkei, wo neunzig
Prozent der Bevölkerung die Teilnahme am Irak-Krieg kategorisch ablehnten,
nicht mehr der ergebene Alliierte von gestern ist. Ihre Aufnahme in die EU
würde einerseits die Republik von Ankara an die Atlantische Allianz anbinden
und gleichzeitig die Brüsseler Gemeinschaft einer geographischen und
kulturellen Verzerrung aussetzen, die jede politische oder gar militärische
Verselbständigung des alten Kontinents ausschlösse.
Die Türkei heute 70 Millionen Einwohner würde auf Grund ihrer
Demographie bald zum zahlenstärksten Mitglied der Union. Die Aufnahme
beinhaltet das freie Niederlassungsrecht für die Bürger aller
Mitgliedsstaaten. Die türkischen Deutschland-Experten und Soziologen in
Ankara und Istanbul hegen nicht den geringsten Zweifel, daß somit eine
gewaltige Migration aus Anatolien in Richtung Deutschland stattfände, eine
rapide Zuwanderung von mindestens 10 Millionen Menschen, darunter ein
überproportional großer Anteil von Kurden. Die Bundesrepublik Deutschland
verlöre damit nicht nur ihre ohnehin fragwürdige christliche, sondern auch
ihre nationale Identität.
Bei aller Sympathie für die Türken, bei aller Anerkennung ihrer Tüchtigkeit,
ihres Fleißes, ihrer Disziplin, käme es dann auf deutschem Boden zumal in
den Wohngebieten der kleinen Leute zu einem fatalen Kulturschock, ja zu
gewaltsamen Auseinandersetzungen, an denen gemessen die Streitfälle
Nordirland oder Baskenland, mit denen London und Madrid sich plagen, als
Lappalie erschienen. Sehr bald würden im Bundestag türkische, vielleicht
auch islamisch orientierte Parteien entstehen, die jede Regierungsbildung
beeinflussen und wie heute schon in gewissen Ballungsgebieten von Türken
mit deutschem Paß das Zünglein an der Waage bilden.
Diese Argumentation trage ich in durchaus freundschaftlicher Absicht vor.
Man hätte in Deutschland ehrlicher sein müssen und die türkische
Bruder-Nation von Anfang an darauf verweisen sollen, daß Europa die
Nachfolger der Osmanen nicht wie einen balkanischen Kleinstaat behandelt,
sondern als Erben eines Großreiches respektiert. Die EU muß ja auch der
christlichen Ukraine eine Absage erteilen und kann es sich nicht leisten,
ihre Grenzzone bis zum Kaukasus, bis Mesopotamien und Iran vorzuschieben, wo
einst der Untergang des Byzantinischen Reiches seinen Ausgang nahm. Eine
solche Sprache wäre vermutlich auf willigere Zuhörer in Ankara gestoßen als
das beleidigende Gefeilsche um erfüllte oder unerfüllte Menschenrechte.³
(a.a.O. S. 27 ff)
Partnerschaft als alternatives Angebot zum EU-Beitritt
Trotz der Verweigerung des EU-Beitrittes solle man die Türkei an die
Interessen Europas anbinden. Scholl-Latour:
Das alternative Angebot müßte dann allerdings lauten: Der Türkei fällt eine
Ordnungsfunktion im Orient und im Kaukasus zu; ihre ethnischen Verästelungen
und Interessen reichen weit bis nach Zentralasien, und deren Entfaltung
sollte auf die volle europäische Unterstützung stoßen. Vor allem wäre die
Türkei der wirtschaftliche Vorzugspartner, ein enger militärischer
Verbündeter, ein gleichrangiger Nachbar jener Europäischen Union, um deren
Zusammenhalt es auch ohne die maßlose Ausweitung nach Osten noch so
erbärmlich bestellt ist.³ (a.a.O., S. 29)
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AULA-Gespräch mit dem Islam- und Nahost-Experten Prof. Dr. Peter
Scholl-Latour:
Anatolien ist kein Bestandteil Europas!³
AULA: Mit den Anschlägen in Madrid scheint der islamistische Terror auch
nach Europa gekommen zu sein. Drohen nun auch der Bundesrepublik Deutschland
und Österreich derartige Anschläge?
Scholl-Latour: Das kann man nicht von vornherein sagen, aber mit der
Möglichkeit muß natürlich gerechnet werden. Es geht ja im Grunde gar nicht
so sehr darum, die jeweiligen europäischen Länder als solche anzugreifen als
vielmehr durch islamistische Kampfgruppen Druck auf europäische Regierungen
auszuüben.
AULA: Würde ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union das Problem des
Islamismus in Mitteleuropa vergrößern?
Scholl-Latour: Vermutlich ja, denn das wäre mit einer sehr massiven
Zuwanderung von Türken verbunden, und eine allmähliche Islamisierung der
Türkei ist ja im Gange. Dann würde die Lage nämlich langsam unübersichtlich!
AULA: Halten Sie eine Verschärfung der Gesetze zur inneren Sicherheit für
ein taugliches Mittel zur Terrorbekämpfung?
Scholl-Latour: Wenn es darum geht, Telefone abzuhören, also was hier man den
Lauschangriff³ nennt, dann schon. Im übrigen werden die Telefone schon
längst abgehört wenn nicht von den Deutschen, dann von den Amerikanern!
Das ist ja alles ein Schattenboxen. Und wenn man dann nur noch einen
Fingerabdruck auf die Kennkarte machen muß, dann ist das ja auch kein großer
Eingriff in die persönliche Freiheit. Ich bin in der Vergangenheit kein
Verbrecher gewesen und habe auch in der Zukunft nicht die Absicht,
Verbrechen zu begehen. Einem normalen Menschen macht das ja nichts aus!
AULA: Sollten die Bundesrepublik Deutschland und Österreich ihre Truppen aus
Afghanistan bzw. dem gesamten Krisengebiet des Nahen und Mittleren Osten
abziehen?
Scholl-Latour: Ich würde das nicht so pauschal sagen. Jedenfalls sollten wir
aus Afghanistan abziehen! Denn was haben wir da zu suchen? Im Moment ist es
nach den Attentaten von Madrid sehr schwer, da es dann so aussähe, als ob
wir irgendeiner Erpressung nachgäben bzw. Angst vor irgendwelchen
Repressalien hätten, insofern sind wir in eine dumme Situation gekommen.
Aber wir bräuchten diese Truppen auf dem Balkan, wo das Feuer nun wieder
aufflammte, was im Grunde zu erwarten war. Es ist die Unfähigkeit der
europäischen Politik, die sich in Afghanistan festlegt und das Kosovo
einfach links liegen läßt, oder Bosnien, wo sie nichts richtig geregelt hat.
Auch in Mazedonien können Konflikte jederzeit wieder aufflammen. Das sind
doch die Gebiete, die für uns wichtig sind, und nicht der Hindukusch! Aber
wenn man vernünftig vorginge, würde man natürlich eine Evakuierung deutscher
und österreichischer Truppen aus Afghanistan vornehmen. Was sollten die denn
da vielleicht das Regime von Herrn Karsai stützen, das ja nicht
repräsentativ ist?!
AULA: Sie halten also eine Präsenz bundesdeutscher und österreichischer
Truppen auf dem Balkan, sprich im Kosovo, für durchaus sinnvoll!
Scholl-Latour: Das ist eine vernünftige Angelegenheit, aber dafür muß es
erst eine politische Initiative geben! Die lassen das da alles schleifen,
und der sogenannte Bevollmächtigte der internationalen Gemeinschaft³ was
das genau ist, weiß ich nicht in Bosnien-Herzegowina hat ja jede
Vollmacht: Der kann jeden Minister absetzen, jeden Abgeordneten, jeden
General, jeden Offizier der hat ja mehr Kompetenzen als der frühere
österreichische Gouverneur in Bosnien oder sogar der Pascha des Sultans. Das
ist eine unglaubliche Situation, daß es auf europäischem Boden Protektorate
gibt!
AULA: Könnte die Europäische Union wie Politiker häufig erklären durch
die Aufnahme der Türkei dazu mithelfen, das Land zu demokratisieren und den
Nährboden für Islamisten zu entziehen?
Scholl-Latour: Das ist völliger Quatsch! Im Gegenteil! Ich sage ja gar
nicht, daß die Türkei radikal-islamisch wird, aber sie ist ein zutiefst
islamisches Land und wird es mehr und mehr. Man darf sich nicht durch ein
paar europäisierte Elemente in Istanbul und Ankara täuschen lassen. Es sind
in den letzten zehn Jahren mehr Moscheen in der Türkei gebaut worden als im
gesamten Osmanischen Reich in den ganzen Jahrhunderten! Und diese Moscheen
sind voll, die Volksfrömmigkeit nimmt dort wieder sehr stark zu. Und die
letzte Garantie gegen das Aufkommen einer gemäßigt islamischen Ausrichtung
des Staates sind die Militärs, die ja im nationalen Sicherheitsrat bisher
den Ton angaben. Würde man das im Namen der Demokratie beseitigen, dann wäre
die letzte kemalistische, laizistische Hürde weggenommen. Es wäre dann so,
daß es in der Türkei auf eine gemäßigt islamische Staatsform hinausliefe
und dagegen ist ja gar nichts einzuwenden, nur paßt das nicht ganz nach
Europa herein, zumal die Türkei in ein paar Jahren der stärkste Staat
EUropas wäre!
AULA: Teilen Sie somit nicht die Auffassung der österreichischen
Außenministerin, die den Beitritt der Türkei zur EU nur davon abhängen
lassen will, ob die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in
der Türkei Stichwort Kopenhagener Kriterien erfüllt sind, also die
Menschenrechte geachtet werden und die Abkehr vom Agrarstaat eingeläutet
wird?
Scholl-Latour: Also das sagen die Deutschen ja auch. Das ist eine furchtbare
Heuchelei mit den Menschenrechten! Das ist eine Beleidigung für die Türken.
Ich habe übrigens ein sehr gutes Verhältnis zu den Türken, aber man muß
einen ganz anderen Aspekt betrachten: Die Türken sind Erben eines großen
Reiches und nicht Anhänger Europas. Wir können natürlich von gleicher Basis
aus, nämlich von Europa zur Türkei, enge Beziehungen zu diesem Staat als
einer großen Macht unterhalten, die ja bis zum Kaukasus und nach
Zentralasien hereinreicht und eine Ordnungsfunktion im Orient hätte, aber
doch nicht als Bestandteil Europas. Anatolien ist doch kein Bestandteil
Europas!
AULA: Halten Sie freie und demokratische Wahlen im Irak unter US- oder
UN-Mandat für realistisch?
Scholl-Latour: Unter US-Mandat bestimmt nicht, da würde getürkt und
gefälscht! Und unter UN-Mandat, na ja, das wollen wir einmal hoffen. Aber
das ist der einzige Weg, denn wenn man schon im Namen der Demokratie
antritt, dann kann man auch nicht die Wahlen verweigern, und zwar Wahlen in
dem Sinne, daß jedermann eine Stimme hat.